Chronifizierung der Schmerzen

Eine zentrale Bedeutung bei der Chronifizierung (= Vorgang des chronisch Werdens) der Schmerzen spielt das Schmerzgedächtnis. Nicht nur unser Großhirn ist in der Lage zu lernen, sondern auch die sensiblen Nervenzellen des Rückenmarks. Es kommt zu langfristigen physiologischen und biochemischen Veränderungen im Zentralnervensystem (= Rückenmark + Gehirn).

Man hat herausgefunden, dass anhaltende Schmerzimpulse die Aktivität der Nervenzellen verändern. Dann kann bereits ein leichter Reiz, wie eine Berührung, Wärme oder Dehnung ausreichen, um als Schmerzimpuls wahrgenommen zu werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Allodynie. Außerdem tritt eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit, eine so genannte Hyperalgesie, auf. Hierbei handelt es sich um eine übermäßig starke Schmerzempfindung auf einen schmerzhaften Reiz. Schließlich können die Schmerzen auch auftreten, wenn keine Ursache mehr vorhanden ist. Der Schmerz hat sich vom auslösenden Ereignis abgekoppelt und verselbstständigt. Er ist chronisch geworden. Es handelt sich dann um die „eigentliche“ Schmerzkrankheit.

Bei diesem Chronifizierungsprozess spielen auf zellbiologischer Ebene Neurotransmitter (Botenstoffe) eine große Rolle. Die Nervenzellen verändern sich sogar hinsichtlich ihres Musters der genetischen Aktivität. Eine Schlüsselrolle spielen dabei so genannte IE-Gene (IE = Immunitätseinheit). Das ständige Bombardement mit Schmerzimpulsen führt letztendlich dazu, dass die Schmerzzelle vermehrt so genannte Ionenkanäle und Schmerzrezeptoren ausbildet. Beide Strukturen dienen dazu, Schmerzreize an das Gehirn weiterzuleiten. Dies geschieht bei der sensibilisierten Nervenzelle schon bei geringsten Schmerzreizen oder auch ohne jeglichen Anlass. Das Schmerzgedächtnis ist entstanden.

Wie lange es dauert, bis ständig wiederkehrende Schmerzreize die entsprechenden Veränderungen an den Nervenzellen bewirken, ist unklar. Im Nervensystem des Menschen werden nämlich auch Substanzen gebildet, die übererregte Nervenzellen wieder dämpfen. Ebenso wirken Opioide, zentral dämpfende Schmerzmittel, die die Weiterleitung von Schmerzreizen hemmen. Die körpereigene Schmerzdämpfung funktioniert bei jedem Menschen unterschiedlich gut. Daher kann nicht prognostiziert werden, ab welchem Zeitpunkt akute Schmerzen bei einem Menschen zu Dauerschmerzen werden. Sicher ist jedoch, dass im Prinzip jeder Schmerz mit der Zeit chronisch werden kann. Je länger er anhält und je stärker er ist, desto größer ist das Risiko der Chronifizierung.

Selbst unter Narkosebedingungen, bei denen das Bewusstsein ausgeschaltet wird, kann ein chirurgischer Eingriff die Chronifizierungsprozesse im zentralen Nervensystem in Gang bringen. Um eine bleibende Sensibilisierung der Nervenzellen zu vermeiden, müssen beispielsweise bei einer Amputation die entsprechenden Nervenbahnen durch lokale Anästhesie zusätzlich betäubt werden. Dies hilft den späteren Phantomschmerz zu vermeiden.

Die Quintessenz aus diesen Ausführungen ist, dass einer Chronifizierung der Schmerzen durch ausreichende und rechtzeitige Behandlung vorgebeugt werden kann und dies durch eine vorausschauende Schmerztherapie auch erfolgen sollte.

Schwieriger ist es, das einmal eingeprägte Schmerzgedächtnis wieder zu löschen. Dies erfordert oft den Einsatz und die Kombination von vielen Medikamenten, wie verschiedenen Schmerzmitteln (Opioide, NSAR), Antiepileptika und trizyklischen Antidepressiva. Daneben sind auch viele nicht medikamentöse Bausteine in der chronischen Schmerzbehandlung (bsp. Bewegung, Akupunktur, Psychotherapie und Biofeedback).

Gleichzeitig versucht man auch die Systeme, die hemmend auf die Chronifizierung wirken, zu stärken. Zu denken ist hier an die Stabilisierung schmerzhemmender Neurone, die Aktivierung der Endorphinausschüttung oder der Stimulation des so genannten endocannabinoiden Systems. Letzteres hat seinen Hauptsitz im Gehirn. Es ist zuständig für das Vergessen von Gelerntem. Es hilft somit beim „Löschen“ des Schmerzgedächtnisses. Durch Bewegung, vor allem durch Ausdauersportarten, wird es stimuliert.

Ein Mittel, welches sowohl bei akuten, als auch bei chronischen Schmerzen eingesetzt wird, ist Flupirtin. Seine Anwendung soll zur Löschung des Schmerzgedächtnisses beitragen. Es die Weiterleitung des Schmerzes im Rückenmark, gleichzeitig wirkt es stabilisierend auf die Ruhelage von Nervenzellen, die an der Verarbeitung von Schmerzreizen im zentralen Nervensystem beteiligt sind.

Die Vorteile des Wirkstoffs liegen darin, dass er keine atemdepressiven Nebenwirkungen – wie die Morphine – hat und keine Hinweise auf Sucht oder Gewöhnung bestehen. Auch die Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes wird nicht angegriffen, wie dies bei den so genannten NSAR Präparaten, wie Acetylsalicylsäure oder Paracetamol, der Fall sein kann. Allerdings werden der Substanz andere Nebenwirkungen zugeschrieben, wie Muskelerschlaffung, eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit und trockener Mund.

Definition: Allodynie
Amputation
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