Martin-Bell-Syndrom – Syndrom des fragilen X-Chromosoms – Marker-X-Syndrom – Fragiles-X-Syndrom

         

Martin-Bell-Syndrom – Syndrom des fragilen X-Chromosoms – Marker-X-Syndrom – Fragiles-X-Syndrom Beim Martin-Bell-Syndrom handelt es sich um eine genetisch bedingte Erkrankung. Sie stellt eine der häufigsten diagnostizierten Ursachen für geistige Entwicklungsstörungen dar, die vererbt werden. Das Spektrum der geistigen Beeinträchtigung reicht von Lernstörungen bis hin zu schweren geistigen Behinderungen. Viele Kinder mit dem Syndrom haben auch eine normale Intelligenz. Daneben können noch weitere Symptome auftreten.

Die Häufigkeit der Erkrankung variiert je nach Geschlecht. Die Häufigkeitsangaben sind je nach Quelle unterschiedlich. Einer von 2 000 bis 4 000 männlichen Neugeborenen kommt mit dem Syndrom zur Welt. Mädchen sind nur halb so häufig betroffen (1 : 4000 bis 1 : 8000). Bei ihnen verläuft die Erkrankung auch mit wesentlich milderen Symptomen.

Ursache

Verantwortlich für das Martin-Bell-Syndrom ist eine Mutation auf dem X-Chromosom. Dieses gehört zu den Geschlechtschromosomen. Frauen besitzen davon zwei in jedem Zellkern einer Zelle, Männer – neben dem Y-Chromosom – eines. Der Gendefekt betrifft das sogenannte FMR1-Gen (= fragiles X mental retardation Gen), dessen genauer Genort auf dem langen Arm des X-Chromosoms liegt und mit Xq27.3 bezeichnet wird. Hier kommt ein bestimmter DNA-Abschnitt (CGG-Repeat -> Cytosin-Guanin-Guanin Trinukleotid) über das gewöhnliche Maß hinaus häufiger vor, als bei einem gesunden Menschen. Je häufiger der DNA-Abschnitt (= CGG-Repeat) vorhanden ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene Krankheitssymptome aufweist.

Gesunde Menschen haben den Genabschnitt (= CGG-Repeat) ungefähr 6- bis 54-mal. Symptomlose Überträger besitzen ihn 55- bis 200-mal; man spricht dann von einer Prämutation. Erkrankte Personen weisen Wiederholungen von über 200-mal auf. Dies bezeichnet man als Vollmutation. Die genaue Funktion des FMR1-Gens wird derzeit noch erforscht. Wahrscheinlich beeinflusst das Protein, für das dieses Gen codiert, andere Proteine. Deren Fehlen führt zu einer Schrumpfung von Hirnzellen.

Symptome

Im Vordergrund steht die Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung, deren Spektrum sehr variabel ist und von einer schweren geistigen Behinderung bis hin zu Lernstörungen reicht. Mit zunehmendem Alter kann sich die Minderung der Intelligenz weiter ausprägen. Sprach- und Sprechstörungen sind ein häufiges Symptom. Das Lernen wird auch durch Verhaltensstörungen, Hyperaktivität und nur kurze Aufmerksamkeitsspannen beeinträchtigt. Typisch sind auch autistisches Verhalten oder Aggression.

Die körperlichen Beeinträchtigungen der Erkrankung variieren ebenfalls in ihrer Ausprägung. Auffälligkeiten im Kopfbereich sind eine hohe Stirn, ein relativ langes Kinn und große, abstehende Ohren sowie ein hoher Gaumen. Erst nach der Pubertät können bei Jungen große Hoden sichtbar werden. Eine Bindegewebsschwäche macht sich durch ungewöhnlich bewegliche Gelenke bemerkbar. Herzerkrankungen können auftreten.

Diagnose

Die körperlichen Symptome deuten auf die Erkrankung hin. Eine molekulargenetische Untersuchung kann die Diagnose erhärten. Die Anzahl der sich wiederholenden DNA-Bruchstücke im FMR1-Gen wird nachgewiesen. Früher waren weitaus aufwendigere Untersuchungsmethoden nötig (Chromosomenanalysen), um die Erkrankung zu identifizieren. So legte man Zellkulturen aus weißen Blutkörperchen der betroffenen Personen an und setzte sie bestimmten Wuchsbedingungen aus. An den X-Chromosomen entstanden dann an einer bestimmten brüchigen (= fragilen) Stelle (Xq27.3) Lücken.

Therapie

Die Erkrankung kann nicht ursächlich behandelt werden. Frühfördermaßnahmen, wie Sprach- und Sprechtherapie sowie Ergotherapie, helfen den Kindern ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Bei manchen Kindern werden auch anregende Mittel, Antidepressiva oder Angst lösende Medikamente eingesetzt.

Vorbeugung

Mit pränatal diagnostischen Maßnahmen (Fruchtwasseruntersuchung, Chorionzottenbiopsie) kann der Gendefekt aufgedeckt werden. Erwarten Eltern ein Kind mit dem Syndrom, kann nach eingehender Beratung, die Schwangerschaft beendet werden. Eine genetische Beratung sollte auf jeden Fall in den betroffenen Familien durchgeführt werden.

Genetische Besonderheiten des Erbgangs

Das Martin-Bell-Syndrom folgt nicht dem klassischen Muster einer geschlechtsgebundenen X-chromosomalen Mutation. Es handelt sich vielmehr um eine instabile, dynamische genetische Veränderung. Dies lässt sich an folgenden Tatsachen ablesen:

  • Ein gewisser Prozentsatz von Männern, die das defekte Gen besitzen, entwickeln keine Symptome. Da Männer nur ein X-Chromosom besitzen, müsste es sich bei einem normalen X-chromosomalen Erbgang auf jeden Fall bemerkbar machen.
  • Frauen, die ein gesundes und ein defektes X-Chromosom aufweisen, können Symptome entwickeln. Bei einem normalen X-chromosomalen Erbgang überdeckt das gesunde Gen das kranke.
  • Das Martin-Bell-Syndrom kann über Generationen hinweg in einer Familie nicht auftreten, obwohl es vererbt wird. Dann wieder tritt es in verstärktem Maße auf.

Folgende Vererbungsmechanismen können jedoch bei einem Martin-Bell-Syndrom beobachtet und zur genetischen Beratung herangezogen werden:

  • Männliche Träger einer Prämutation zeigen keine Krankheitssymptome. Sie können das defekte Gen nicht an ihre Söhne weitergeben, da sie ihnen nur das Y-Chromosom vererben. Weibliche Nachkommen erhalten auf jeden Fall die Prämutation.
  • Männer, die von einer Vollmutation betroffen sind, zeigen unterschiedliche Ausprägungen des Krankheitsbildes. Falls sie sich fortpflanzen, übertragen sie nicht die erwartete Vollmutation, sondern sie geben nur eine Prämutation auf Ihre Töchter weiter.
  • Frauen, die Trägerinnen einer Prämutation sind, zeigen selbst keine Symptome, sind aber in der Lage das Syndrom an ihre Söhne und Töchter weiterzugeben, die dann erkranken können. Das Erkrankungsrisiko hängt von dem Vorliegen einer Prä- oder Vollmutation bei dieser nächsten Generation ab.
  • Frauen, die Trägerinnen einer Vollmutation sind, haben zum Teil keine Krankheitserscheinungen. Bei den meisten finden sich jedoch Symptome, die aber nicht so stark ausgeprägt sind wie bei Männern. Statistisch gesehen können sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % die Erkrankung weitergeben.

med. Redaktion Dr. med. Werner Kellner
Aktualisierung 15.06.2008